1 Im Jahr 1957 beginnst Du Dein Studium an der Staatlichen Akademie der bildenden Künste in Stuttgart. Warum hast Du Kunst studiert?
____Eine zeichnerische Begabung zeigte sich bei mir schon in der Jugend. Die Zeiten waren aber so, dass es vernünftig schien, zunächst ein Handwerk zu erlernen. Nach einer dreijährigen Ausbildung als Schriftenmaler wurde mir aber klar, dass ich kreativ arbeiten wollte.
2 Zunächst dachte ich an Architektur oder Grafik. Durch einen Zufall traf ich auf Professor Heinrich Wildemann von der Stuttgarter Kunstakademie, der mich spontan ermunterte, bei ihm abstrakte Malerei zu studieren. Später wurde ich bei ihm Meisterschüler.
____Der Auslöser war schlicht und einfach die Ablösung vom Erlernten und das starke Empfinden etwas Eigenes, etwas Neues entwickeln zu wollen. Da war der Schritt von der Malerei zum Dreidimensionalen nur folgerichtig.
____Hinzu kam, dass mich die Theorie und die Arbeiten der Künstler des russischen Konstruktivismus sehr beeindruckt haben: Kasimir Malewitsch, El Lissitzky, Nam Gabo, Alexander Rodtschenko oder der niederländische De Stijl-Künstler wie Piet Mondrian und deren Einfluss auf das Bauhaus.
____Sie gaben mir den Anschub im Konstruktivismus meinen künstlerischen Ausdruck und Weg zu finden.
3 Die ersten Werke dieser Art sind aus Gips, bald aus Polyester, so dass Du tatsächlich einer der ersten deutschen Künstler bist, die dieses Material in der Bildhauerei verwenden. Aus welchen poetischen, ästhetischen und formalen Gründen bevorzugst Du Polyester?
____Ich suchte also nach einer Idee und nach einem Material wie ich meine Vorstellungen von Kunst umsetzen kann. Einerseits wollte ich konstruktiv im Raum arbeiten, andererseits muss man meine Suche nach einem neuen Material auch aus der Zeit heraus verstehen. Nach 1945 sollte alles neu sein, man wollte die Vergangenheit abstreifen. Die Kunst war wieder frei für neue Ideen und Lebensentwürfe. Zugleich war es in der Kunst möglich, an eine neue positive Zukunft zu glauben. Sahen die Künstler der Gruppe Zero ihre Kunst als historischen Neubeginn nach dem 2. Weltkrieg, versuchte ich mit Polyester den Neubeginn durch eine Zäsur gegenüber traditionellen Materialien: Ich wollte nicht Stein oder Holz bearbeiten, sondern mich reizte mit einem in der Kunst bisher nicht verwendeten Material zu arbeiten. Ich experimentierte zunächst mit verschiedenen Materialien wie Ton, Holz, Metall, Sand etc. Dann entdeckte ich das flüssige, farblose Polyesterharz — ein Nichts als Material!
____Ich begann also mit dem „Nichts“, wenn man das Harz als Nichts bezeichnen will. Gegenüber klassischen Materialien, die eine eigene Struktur haben, ist Polyester neutral. Es ist zunächst flüssig und sein Aggregatzustand muss erst hergestellt werden. Auch das Formmaterial Alabastergips hat kein Eigenleben, es ist ebenfalls neutral. Die Möglichkeiten, die das Material Polyester hergibt, musste ich erst erfinden und erarbeiten.
4 Die Grundlagen Deiner Forschung scheinen sich auf die Prinzipien des Kubismus und des Konstruktivismus, zu beziehen, denen die moderne Bildhauerei und der Ambiental installation zu verdanken sind. Die Interaktion von voll / leer nimmt eine grundlegende Bedeutung für die Entwicklung der Arbeiten im dreidimensionalen Raum ein. Kommt dieses Bedürfnis nach Interaktion von voll / leer auch in Ihrer Arbeit vor? Wie entsteht dies?
____Die Interaktion zwischen voll/leer entsteht bei meinen Plastiken dadurch, dass sie keinen Sockel haben, sondern auf den Spitzen der plastischen Elemente stehen. Dies ist bei den Raumkörpern aus Polyester, die aus mehreren Elementen bestehen ebenso wie bei den Plastiken aus der Werkgruppe „Stabil-Instabil“, aber auch bei den neuen Plastiken der Fall. Die Plastiken fangen an im Raum zu schweben. Die Hohlräume zwischen den einzelnen Elementen sind als gestaltete Form mitgedacht.
____Ein Beispiel: Wenn ich die Dreiecks-Stabelemente aus der Werkgruppe „Stabil-Instabil“ aneinanderfüge, ergeben sie eine Säule. Unterschiedlich auseinander gezogen unter Einbeziehung der Zwischenräume und des Umraums ergeben sie erst eine Plastik.
5 Bei einem Blick auf Deine Arbeiten, die für Balance und Einfachheit stehen, denkt man an eines der Prinzipien des Bauhauses, nämlich „dass es keine Unterscheidung zwischen Kunst und Handwerk, Schönheit und technischer Qualität geben darf.“ Ist es Zufall oder beeinflusst das Bauhaus tatsächlich Deine Arbeit? Wenn ja, in welchem Umfang?
____Unmittelbar neben der Kunstakademie liegt in Stuttgart die Weissenhofsiedlung, die 1927 in vom Deutschen Werkbund unter der Leitung von Ludwig Mies von der Rohe und von führenden Vertretern des Neuen Bauens errichtet wurde, teilweise unter Verwendung experimenteller Materialien. Sie gilt noch heute als eine der bedeutendsten Architektursiedlungen der Neuzeit.
____Der Stuttgarter Maler und Grafiker Willi Baumeister war an der parallel stattfindenden Ausstellung als Typograf und Werbegrafiker beteiligt — er war bis 1955 Vorgänger von meinem Professor, Heinrich Wildemann. Durch diese prägenden Persönlichkeiten strahlte der Geist des Bauhauses auch in den 50er und 60er Jahren auf die Lehre und das Arbeiten an der Stuttgarter Kunstakademie aus.
____Das freie Denken und die klaren Formen des Bauhauses hatten so auch Einfluss auf mich während des Studiums und später auch auf meine Arbeiten. Wichtiger ist mir aber, dass für mich die Prinzipien des Bauhauses damals und auch heute noch gelten. Ohne meine handwerkliche Ausbildung hätte ich Polyester nicht verarbeiten können. Das gilt ebenso für die Plastiken in den neueren Werkgruppen.
____Die handwerkliche Fähigkeit, mit den Materialien sach- und fachgerecht umzugehen ist meiner Meinung nach eine Grundvoraussetzung für künstlerisches Arbeiten, was leider heute vielfach nicht selbstverständlich ist.
6 Die Hauptrollen in der Kunst der sechziger Jahre spielten unter anderem die Künstler der Gruppe Zero, eine Bewegung die in Deutschland entstand und sich weltweit rasch verbreitete, um mit den bis dahin überlieferten Dogmen der Kunst völlig zu brechen und “von vorne anzufangen”.
Wie siehst Du Dich gegenüber diesen Künstlern? Bist Du Günther Uecker, Otto Piene, Heinz Mack oder anderen Künstlern der Gruppe Zero einmal begegnet? Wenn ja, haben diese Treffen Deine Forschung irgendwie beeinflusst?
____Es kam zu keinen persönlichen Begegnungen mit den Künstlern der Gruppe Zero, die sich 1958 zusammenschlossen und sich ja bereits 1966 wieder trennten. Das war die Zeit meines Studiums und ich suchte nicht die Nähe anderer Gruppierungen, mir ging es seinerzeit nur um meine künstlerische Entwicklung.
____Mir war aber bekannt, wie sie dachten und wir dachten ähnlich, denn das politische Nichts nach 1945 bildete zunächst auch ein Vakuum in der Kunst. Wollten die Künstler der Gruppe Zero mit ihren lichtkinetischen Objekten einen Neubeginn setzen, versuchte ich mit dem für die Kunst neuen Material Polyester im Relief und in der Plastik den Neubeginn.
7 Deine Arbeiten lassen sich in drei Hauptgruppen gliedern, deren letzte und neuste von Dir als „vom realen zum imaginären Raum” definiert wurde. Kannst Du uns erklären, was Du unter “real” und “imaginär” verstehst?
____Zunächst ging ich bei den Polyesterarbeiten vom Relief aus. Später erweiterte ich dies formal in den Plastiken — ich nannte diese Werkgruppe dementsprechend auch „Von der Fläche in den Raum“ und die Arbeiten „Raumflächen“ und „Raumkörper“.
____Jetzt in meiner neuen Werkgruppe reizte mich der umgekehrte Weg. Ausgangspunkt ist die reale Plastik. Mich interessiert die Frage, was geschieht, wenn ich diese realen Arbeiten ins Zweidimensionale umsetze? Welche formalen und farblichen Überschneidungen, Dimensionen, Projektionen, Strukturen muss ich einsetzen, um den Horizont zu erweitern.
____Durch diese illusionistische Umsetzung der realen Plastiken ins Tafelbild entsteht eine imaginäre Erweiterung des Raumes in dessen Tiefe. Es ist ein Spiel zwischen Wirklichkeit und Illusion und es geht um das raumschaffende Zusammenspiel zwischen Form und Farbe.
8 Viele Deiner Skulpturen sind monochrom. Wie wichtig ist die Beziehung zwischen Material, Farbe und Licht?
____Zunächst gilt, dass grundsätzlich jedes Material ein Formträger für Farben und Licht ist. Nun gibt es Oberflächen, die das Licht ‚schlucken, so dass es sinnlos für den Künstler ist, das Licht als Faktor in seine Überlegungen einzubeziehen. Mit Polyester hatte ich aber ein Material gefunden, dass — neben der Farbe — das Licht als zusätzlichen Gestaltungsfaktor zuliess, es sogar erforderte. Das gilt sowohl für die Reliefs, als auch für die Klein- und Großplastiken. Insbesondere bei den monochromen Arbeiten formt das Licht je nach tagesbedingten Einfall die Arbeiten immer neu und anders.
9 1968 machst Du erste Siebdrucke bei denen es eine starke Übereinstimmung mit Deinen Arbeiten in Polyester gibt. Welche Rolle spielt der Siebdruck in Deiner Arbeit?
____Da ich — wie ich schon sagte — von der abstrakten Malerei komme, war die Farbe bei mir immer mitgedacht. In den Siebdrucken lebte ich das Spiel mit der Farbe aus. Formal haben die Grafiken eine starke Beziehung zu den Polyesterplastiken.
____1968 entstanden die ersten Siebdrucke, Ich habe ca. 80 Auflagen in 25 Jahren geschaffen. Fast alle Auflagen sind verkauft. Man muss das Interesse an Siebdrucken aus der Zeit heraus verstehen: Die an Kunst Interessierten hatten seinerzeit nicht viel Geld und die Siebdrucke konnten sich die Menschen leisten. Die Stimmung in der Gesellschaft war „Aufbruch“ und an diesem wollte man teilnehmen, und die stark farbigen Siebdrucke standen für diese Zeit.
____Interessanterweise besteht heute bei jungen Grafikdesigner eine Nachfrage nach Siebdrucken aus dieser Zeit.
10 Apropos Siebdruck: einige Aufnahmen Deiner Siebdrucke wurden als Poster für Ausstellungen verwendet, an denen Du teilgenommen hast. Ein Beispiel dafür ist die Ausstellung „Multiples“, die 1969 in der Galerie im Hause Behr in Stuttgart stattfand, und an der unter anderem Getulio Alviani, Bonalumi Augustine und Bernard Aubertin teilnahmen. Welche Arbeiten hast Du bei dieser Gelegenheit gezeigt? Welche Erinnerungen hast Du an diese Veranstaltung? Würdest Du uns ein paar Anekdoten erzählen?
____Diese Ausstellung 1969 spiegelte das Neue, den Zeitgeist von damals, den Aufbruch wider. Ich war begeistert, vor allem in Bonalumi einen Künstler kennenzulernen, der ähnlich arbeitete wie ich. In dieser Ausstellung habe ich spontan eine Arbeit von ihm gekauft. Es war eine großartige Ausstellung. Die Galerie im Hause Behr war damals die wichtigste Galerie in Stuttgart neben dem Kunstverein und der Staatsgalerie. Ich war neben dem Plakatentwurf mit einem schwarzen Multiple vertreten. Leider fallen mir keine Anekdoten ein, ich kann mich nur noch an die grosse Begeisterung des Publikums erinnern.
11 In den Jahren, in denen Du Dich den “Polyester Works” widmetest, orientierten in Italien Künstler wie Augustine Bonalumi, Enrico Castellani, Turi Simeti und Dadamaino ihre eigene Forschung am Spazialismo von Lucio Fontana, entwickelten diesen weiter und beschäftigten sich mit Löchern und Auswölbungen unter Verwendung von Leinwänden. Die Art und Weise dieser Entwicklung des Werkes im Raum, Deiner und die der italienischen Künstler, könnte man als parallel betrachten, wenn auch die Wahl der Materialien anders ausfällt: Kanntest Du ihre Arbeit? Wenn ja, was war Deine Meinung dazu?
____Es ist richtig, dass zwischen dem Spazialismo von Lucio Fontana und meiner Werkgruppe der Polyesterarbeiten „Von der Fläche in den Raum“ ein vergleichbarer, paralleler Ansatz zu sehen ist: von der Zwei- in die Dreidimensionalität. Doch im Gegensatz oder Ergänzung zu den Vertretern dieser Richtung, ergab sich in meinen Arbeiten die Dreidimensionalität durch das Polyester.
____Fontana überraschte mich, indem er mit einem einzigen Einschnitt in die Leinwand durch die Einbuchtung der Schnittkanten aus der Fläche ein Relief schuf. Genial!
12 Heute, im Jahr 2015, kann man sagen, dass Du eine fünfzigjährige künstlerische Tätigkeit hinter Dir hast, in der Du die Vorstellung von Raum und Fläche eingehend untersucht hast.
Wie denkst Du, wird sich Deine zukünftige Arbeit weiterentwickeln? Gibt es immer noch Wege (oder “Nebenwege”, wie sie Hans Brög definiert), die einer künstlerischen Untersuchung würdig sind?
____Nicht mehr künstlerisch zu arbeiten, ist für mich nicht vorstellbar. Ich gehöre nicht zu den Künstlern, die in Rastern denken und arbeiten, denn Rationalität und Emotionalität halten sich bei mir die Waage, sondern ich sehe mich als ein Erfinder. Mich treibt die Neugier, ich dränge weiter, ich suche nach neuen Möglichkeien für meinen künstlerischen Ausdruck und dabei will ich auch noch von meinen eigenen Lösungen überrascht werden.
Ich bewundere jeden, der auch im Intellektuellen diese Fähigkeit besitzt, denn diese Menschen sind offen und suchen ebenfalls nach neuen Lösungen und Antworten — sei es im politischen oder im gesellschaftlichen Raum.
____Insofern bleibe ich neugierig, auch was die Weiterentwicklung meiner neuesten Werkgruppe anbelangt: Raum und Fläche werden dabei sicher weiterhin eine wesentliche Rolle spielen genauso wie die Farbe und das Licht. Vielleicht mache ich aber auch etwas ganz Anderes!?
Interview mit Horst Kuhnert
von Federica Picco
für die Galerie Kanalidarte, Brescia.