Ansprache von Dr. Antje Lechleiter zur Eröffnung der Ausstellung von Horst Kuhnert “Vom realen zum imaginären Raum”

Ansprache von Dr. Antje Lech­leit­er zur Eröff­nung der Ausstel­lung von

Horst Kuh­n­ert “Vom realen zum imag­inären Raum”

Bilder und Plastiken

am 18. Mai 2014 in der Skulp­turen­halle der Stiftung für Konkrete Kun­st Roland Phleps in Freiburg

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich freue mich sehr, Ihnen in mein­er Ein­führungsrede mit dem Maler und Bild­hauer Horst Kuh­n­ert, der in Stuttgart lebt und arbeit­et, einen der wichtig­sten deutschen Vertreter der kon­struk­tiv­en Kun­st vorstellen zu dürfen.

Zunächst einige wenige biografis­che Hin­weise: Kuh­n­ert wurde in Schwei­d­nitz geboren und studierte an der Staatlichen Akademie der Bilden­den Kün­ste in Stuttgart bei Prof. Hein­rich Wilde­mann. Vor rund einem hal­ben Jahrhun­dert und gle­ich nach der Beendi­gung seines Studi­ums ging Kuh­n­ert von der abstrak­ten Malerei zur kon­struk­tiv­en Plas­tik über. Ab 1964 führten ihn die bei­den Werk­grup­pen “Raum­flächen” und “Raumkör­p­er” mit ersten Reliefs und Plas­tiken aus Poly­ester im wortwörtlichen Sinne “Von der Fläche in den Raum”. Überdies zählte Kuh­n­ert damals mit diesen Arbeit­en zu den ersten deutschen Kün­stlern, die den neuen Werk­stoff Poly­ester im großen Stil für kün­st­lerische Zwecke ein­set­zten. Zahlre­iche Freiplas­tiken und Arbeit­en für den öffentlichen Raum sind in den ver­gan­genen Jahrzehn­ten ent­standen, unter anderem auch die kün­st­lerische Gesamt­gestal­tung aus Gran­it und Mar­mor ein­er Stadt­bahn­hal­testelle in Stuttgart- Feuer­bach im Jahr 1990. Nun, mit über 70 Jahren, über­rascht der Kün­stler mit ein­er Werk­gruppe, die zeigt, dass Horst Kuh­n­ert mit kom­plex ver­flocht­e­nen Struk­turen zur Malerei und damit auch zur Farbe zurück­gekehrt ist! Und nicht nur das. Seine heute hier aus­gestell­ten Arbeit­en beweisen, dass er dabei den umgekehrten Weg beschre­it­et. Denn in den Poly­ester­ar­beit­en der 1960er bis 1980er Jahre führte — wie schon ange­sprochen — sein Weg von der Fläche in den Raum hinein. Seit 2010 geht es hinge­gen darum, von der plas­tis­chen Gestal­tung zum räum­lichen Illu­sion­is­mus eines Tafel­bildes zu gelan­gen. Damit erk­lärt sich auch der Titel “Vom realen zum imag­inären Raum”. Für mich ist es äußerst beein­druck­end, dass Horst Kuh­n­ert damit ein Grund­prinzip, das sein Schaf­fen über Jahrzehnte hin­weg bes­timmte, prak­tisch auf den Kopf gestellt hat.

Als Herr Phleps und ich den Kün­stler im ver­gan­genen Jahr im Ate­lier besucht­en, waren wir von der engen Verbindung zwis­chen den Plas­tiken und den Tafel­bildern fasziniert. Das eine ist in der Tat ohne das andere kaum denkbar und Kuh­n­ert arbeit­et seit etwa 3 Jahren par­al­lel mit bei­den Tech­niken. Blickt man sich hier um, so hat man den Ein­druck, als ob sich Abschnitte dieser drei­di­men­sion­alen Gebilde auf den Weg in die Wand und damit in die Tiefe des Bil­draumes gemacht hätten.

Was ich im Übri­gen auch noch nie erlebt habe, ist, dass die Bilder wie die Plas­tiken aus den exakt gle­ichen Bestandteilen beste­hen. Näm­lich aus Holz, ein­er Acryl­grundierung und ein­er Über­malung mit Dis­per­sions­farbe. Ich möchte Sie daher auch darum bit­ten, wed­er die Bilder noch die Skulp­turen zu berühren!

Blick­en wir zunächst auf die Plas­tiken: Diese mono­chromen, schwarzen, weißen oder anthraz­it­far­be­nen Gebilde, Kuh­n­ert nen­nt sie “Raumkör­p­er”, beste­hen aus klar struk­turi­erten, gle­ich­seit­ig dreikanti­gen Ele­menten, die in den Raum hine­in­greifen. Bei drei­di­men­sion­alen Kunst­werken, also bei Plas­tiken, Skulp­turen oder Objek­ten, spielt üblicher­weise der Charak­ter des ver­wen­de­ten Mate­ri­als eine zen­trale Rolle für die Gestalt und somit für den Aus­druck des Werkes. Hier erleben wir ein­mal eine Aus­nahme von der Regel, und aus mein­er Sicht sind diese tänz­erisch leicht­en und bewegten Hol­zob­jek­te auch als riesige und dann natür­lich zent­ner­schwere Stahlplas­tiken denkbar. Unbunt, also ohne die Mitwirkung von Farbe und alleine über ihre Form agieren sie unge­mein dynamisch. Mit ihren offe­nen, aus­greifend­en Abschnit­ten durch­brechen diese Raumkör­p­er jeden Ansatz von Sta­tik, ganz offen­sichtlich wollen sie nicht in einem Zus­tand ver­har­ren und flücht­en sich ger­adezu in die Möglichkeit eines Kipp­mo­mentes oder ein­er Schaukel­be­we­gung hinein. Die bei­den Arbeit­en rechts und links des Ein­ganges ent­standen im Jahr 2011 und gehören zu den ersten Arbeit­en dieser neuen Werk­gruppe. Beson­ders die von mir aus gese­hen rechte Arbeit enthält mit der klaren Gegenüber­stel­lung von sta­tis­chen und dynamis­chen Abschnit­ten noch wichtige Aspek­te der vor­ange­gan­genen Werk­gruppe “Sta­bil-Insta­bil”.

Die Dynamik, die spielerische Frei­heit bei ein­er großen räum­lichen Kom­plex­ität verbindet die plas­tis­chen Arbeit­en mit den Tafel­bildern. Hier find­en wir ähn­lich wilde Drehun­gen, net­zar­tige Ver­schränkun­gen und eine — allerd­ings hier natür­lich mit den Möglichkeit­en des unauswe­ich­lich zwei­di­men­sion­alen Tafel­bildes — illu­sion­is­tisch her­beige­führte Tiefen­wirkung. So kön­nen wir hier in der Ausstel­lung unseren Blick hin und her schweifen lassen und zwis­chen realen und imag­inären Räu­men wechseln.

Sie mögen sich vielle­icht schon gefragt haben, wie wohl diese Tafel­bilder ent­standen sind? Nun, Sie müssen sich vorstellen, dass zunächst ein abstrak­tes Gemälde gestal­tet wird, das sich aus ver­schiede­nen Farbflächen zusam­menset­zt. Dann deckt Kuh­n­ert schmalere und bre­it­ere Bän­der ab und trägt die große, mono­chrome Farbfläche, also etwa dieses Rot, oder jenes Anthraz­it auf. Wenn er dann, ganz zum Schluss, die Abdeck­ung der Lin­ien und Bän­der wieder ent­fer­nt, tritt die bunte Far­bigkeit der unter­sten Malschicht her­vor. Wie Sie sehen, gehört auch der Rand der Holz­plat­te zur Kom­po­si­tion hinzu, die Lin­ien gehen hier weit­er und machen das Bild zum kör­per­haften Objekt. Kuh­n­ert arbeit­et zwar nicht mit math­e­ma­tis­chen Geset­zmäßigkeit­en, doch er bere­it­et diese Tafel­bilder sehr genau mit Skizzen vor. Den­noch führt ihn das von mir beschriebene Vorge­hen zu For­men, Kreuzungspunk­ten und Farb­wech­seln, die er auf andere Weise nie ent­deckt hätte. Obgle­ich die mono­chrome Fläche als let­ztes aufge­tra­gen wird, agiert sie als Hin­ter­grund. Sie zieht sich zurück und nimmt dabei einen Teil der For­menkon­glom­er­ate mit sich in die Unendlichkeit des Raumes. Inter­es­san­ter­weise ste­ht hin­ter dieser extrem starken Illu­sion von Räum­lichkeit kein perspektivisches

Ord­nung­sprinzip. Wir find­en starke Über­schnei­dun­gen, das Flucht­en von Lin­ien, und die schmalen Bän­der ziehen sich auch weit in den Hin­ter­grund zurück, während die bre­it­en Streifen stark nach vorne kom­men, doch von ein­er ein­heitlichen, flucht­punk­t­per­spek­tivis­chen Raumgestal­tung kann keine Rede sein. Das ist auch gut so, denn über die Farbe, die kom­plex­en, labyrinthis­chen Struk­turen und die antiper­spek­tivis­che Räum­lichkeit öffnet sich eine Tiefe, die Kuh­n­ert über die bloße Pro­jek­tion von räum­lichen Objek­ten auf die ebene Fläche des Bildträgers nie hätte erre­ichen kön­nen. Eine Tiefe, die er übri­gens — und das ist fast para­dox — auch im drei­di­men­sion­alen Bere­ich und als Bild­hauer nicht erre­ichen kann. Eine inter­es­sante Rolle spielt bei all dem die Farbe, denn es kommt auch die raum­schaf­fende Wirkung der Farbe an sich zum Tra­gen: Das heißt: Warme Far­ben treten nach vorne, während sich kalte Far­ben eher nach hin­ten zurückziehen. Gele­gentlich kehrt Kuh­n­ert diese Ver­hält­nisse aber um, dann sind die war­men Far­ben da, wo man hin­ten ver­muten würde und umgekehrt. Das erzeugt neuar­tige Span­nun­gen, Farbe und räum­lich­er Ein­druck treten in ein dialek­tis­ches Ver­hält­nis zueinan­der. Entwed­er steigert die Farbe die Tiefen­wirkung oder sie hebt sie wieder auf.

Die tek­tonis­chen Kon­struk­tio­nen lassen Assozi­a­tio­nen an Gerüste oder beschädigte moleku­lare Ringstruk­turen denken, wirk­lich benen­nen lassen sie sich aber nicht. Bewusst unklar bleibt die Größe dieser Geflechte, denn es gibt keine Bezugs­größen, d.h. keine Gegen­stände in den Bildern, die uns Größen­maßstäbe liefern kön­nten. Und nicht nur keine Größe, auch keine erkennbare Stof­flichkeit, keine Mate­ri­al­ität ist hier dargestellt. Fraglich ist überdies, ob diese Git­ter über eine Eigen­farbe wiedergegeben sind oder über Farb­spiegelun­gen unklar­er Herkun­ft. Vielle­icht haben Sie sich auch schon gefragt, ob hier — je nach Art des dominieren­den Farbtons — nächtliche Stim­mungen oder auch Momente gleißen­den Lichts nachemp­fun­den wer­den. Die Bilder geben darauf keine verbindlichen Antworten, und wir erfahren auch recht wenig über die dargestell­ten Struk­turen: Fest­stellen kön­nen wir lediglich ihre rel­a­tiv­en Pro­por­tio­nen und Men­gen­ver­hält­nisse. Was aber sagen diese Angaben über die räum­liche Struk­tur der imag­inären Vor­lage aus? Nichts, doch wir müssen über diese Dinge auch nichts erfahren, denn Kuh­n­ert geht es zuerst ein­mal um das raum­schaf­fende Zusam­men­spiel von Farbe und Form. Dann kommt aber noch etwas weit­eres hinzu: Weiß man um Kuh­n­erts vor­ange­gan­gene Werk­gruppe “Sta­bil-Insta­bil” und um sein grund­sät­zlich­es Inter­esse an der “Sta­bil­ität in der Insta­bil­ität” so ahnt man, dass diese Geflechte auch für das Insta­bile, das aber sta­bil­isierend wirk­sam wer­den kann, ste­hen. Sie meinen Verän­derung, sie meinen das Tran­sis­torische, den Über­gang zwis­chen gegen­sät­zlichen Bere­ichen. Und ich denke, sie meinen noch vieles mehr, näm­lich alles, was jed­er einzelne an Wahrnehmungen und Erfahrun­gen mit diesen For­men verbindet, spielt auch eine Rolle im Wahrnehmen und Erfahren dieser Ausstellung.

Sehr geehrte Damen und Her­ren, die Plas­tiken wie die Tafel­bilder von Horst Kuh­n­ert erschließen sich aus dem Sehen, der Beobach­tung. Was wir hier sehen, also Abschnitte von räum­lichen Git­tern und kom­plizierten Raumge­bilden ent­lassen uns in die Frage, wie es links und rechts, oben und unten wohl weit­er gehen kön­nte. Damit nehmen diese Arbeit­en auch Bezug auf die Architek­tur, auf den Raum, der dadurch ver­tieft und damit verän­dert wird. Diese Bilder und Plas­tiken von Horst Kuh­n­ert wer­den auf diese Weise zur schein­räum­lichen Instal­la­tion, zum Spiel mit Illu­sion und Wirklichkeit.