Über die Untiefen der Malerei

Dass Maler auch als Bild­hauer arbeit­en, ist häu­figer zu

beobacht­en. Dass Bild­hauer zugle­ich als eifrige Zeichner

in Erschei­n­ung treten auch. Dass ein gen­uin­er Bildhauer

große, wand­fül­lende Acryl­bilder schafft, kommt aber doch

ver­gle­ich­sweise sel­ten vor. Genau diesen Weg, vom realen

Raum in die gemalte Bild­fläche hinein, ist Horst Kuh­n­ert in

den let­zten Jahren mit großer Kon­se­quenz gegangen.

Dies ist über­raschend, vor allem weil er damit ein Grundprinzip

umkehrt, das sein Schaf­fen über viele Jahre bes­timmt hat.

Jahre­lang war es als Bild­hauer sein Anliegen, »von der Fläche

in den Raum« zu gehen, waren seine Skulp­turen und Wandreliefs

aus gle­ich­mäßi­gen Fläch­enele­menten aufge­baut, die

seine Prinzip­i­en verkör­perten und seine Herkun­ft aus der konstruktiven

Tra­di­tion bezeugten. Noch seine aktuellen Skulpturen,

die aus klarstruk­turi­erten, dreikanti­gen Ele­menten beste­hen, verweisen

auf diese sys­tem­a­tis­che Kon­struk­tion in den sie umgebenden

Raum hinein. Darüber hin­aus haben diese neusten Werke

jedoch eine spielerische Frei­heit und eine räum­liche Komplexität

erlangt, die sie von Kuh­n­erts früheren plas­tis­chen Arbeit­en absetzt

und zugle­ich zu seinen aktuellen Acryl­bildern überleitet.

Schon auf den ersten Blick wird deut­lich, dass die neuen Skulpturen

und die neuen Acry­lar­beit­en des Kün­stlers for­mal und

inhaltlich eng miteinan­der verknüpft sind; ja fast scheint es so,

als ob die Acryl­bilder raf­finierte Pro­jek­tio­nen sein­er dreidimensionalen

Arbeit­en darstellen. Räum­liche Drehun­gen, Knoten und

Über­schnei­dun­gen find­en sich hier wie dort. Hinzu kommt eine

eigen­tüm­liche, aber bewusst provozierte Tiefen­wirkung, die der

Bild­hauer Kuh­n­ert in seinen Bildern anlegt – ein sehr kokettes

Spiel mit Illu­sion, Räum­lichkeit und for­maler Komplexität.

Erzeugt wird diese räum­liche Kom­plex­ität durch große, farbige

Flächen, die Kuh­n­ert unter seine lin­earen Raumge­flechte legt.

2011
Holz (MDF), Acryl, Dis­per­sion
70 x 112 x 60 cm

Ihre zufäl­lig her­vortre­tenden Schnittstellen »zer­stören« auf

pro­duk­tive Weise die zwei­di­men­sion­ale Aus­bre­itung der Linienstrukturen,

irri­tieren unbe­wusst die Wahrnehmung des Betrachters

und brechen den malerischen Raum in die Tiefe auf, eine

nicht­per­spek­tivis­che Räum­lichkeit entsteht.

2013
Holz, Acryl, Dis­per­sion
167 x 250 cm

Horst Kuh­n­erts neue Bilder sind Exper­i­mente mit dieser nicht oder

auch antiper­spek­tivis­chen Räum­lichkeit. In ihren suggestiven

Untiefen kann er weit­er vor­drin­gen, als es ihm als Bildhauer

im realen Raum je möglich gewe­sen wäre. Seine vielverzweigten

Geflechte evozieren Gedanken an tech­nis­che Struk­turen oder

futur­is­tis­che Wel­traum-Architek­turen. Sie erin­nern aber auch

an die tech­noiden Gebilde, die Mar­cel Duchamp bei seinen

Recherchen zum »Großen Glas« erson­nen hat. Von Duchamp

ist bekan­nt, dass er sich sehr bewusst mit den Darstellungsmöglichkeiten

ein­er vierten Dimen­sion auseinan­der geset­zt hat.

Kuh­n­ert gehört nicht zu jenen Kün­stlern, die mathematische

The­o­rien zum Aus­gangspunkt ihrer Arbeit machen. Dennoch

hat er, auf anderem Weg als Duchamp, eine Möglichkeit

gefun­den, räum­liche Kon­stel­la­tio­nen zu erzeu­gen, die seine

früheren, drei­di­men­sion­alen Werke an Kom­plex­ität übertreffen.

Dem Weg vom Raum zur Fläche, fol­gt der Schritt in die Tiefe.

Stephan Geiger